Räuchermännchen, Kastenform und Kindertickets: Sprechende Objekte im Mansfelder Land

  • Strecke: 60 km
  • Dauer: ca. 11h
  • Beschaffenheit: Feldweg, Straße, Waldweg, Schotterweg
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  • Autor(en): Studierende Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, (Text und Fotos: Matthias Noell)

“Alles verschwindet, man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will.” Paul Cézanne

Das Mansfelder Land verschwindet. Auf den Eisleber Nebenstraßen verblassen die alten Farben der Putze, die Beschriftungen an den Fassaden sind schon nicht mehr in Gänze zu lesen: “Sch … waren” ist dort gerade noch zu erkennen. Noch. Ein Stück weiter in Eisleben, stadtauswärts Richtung Wimmelburg in der Rammtorstraße, haben die Bergleute dieses Problem des allmählichen Verschwindens ihrer Hausbeschriftung vorausgeahnt und verwendeten 1907 soliden Haustein an der Fassade ihres Knappschaftshauses. Die heutige Knappschafts-Versicherung hat wohl dennoch Angst vor dem Verschwinden, sie hat vorsichtshalber noch ein zusätzliches Schild darüber angebracht. Unter dem geschweiften Giebel aus rötlichem Sandstein befindet sich ein Relief aus hellem Stein mit dem Wappen von Mansfeld-Hinterort und zwei Bergleuten in Uniform, die es sich auf der Inschrift “Mansfelder Knappschafts-Verein” bequem machen. Sie tragen die typischen zylinderförmigen Schachthüte, auf denen die üblichen Federbüsche gesteckt sind. Diese hier sehen allerdings eher aus wie Ananas-Strünke.

Nur ein paar hundert Meter weiter gibt es auf einer kleinen Brachfläche die Reste eines ehemaligen Gebäudes aus Schlackestein zu untersuchen – ein Abfallprodukt des Bergbaus, das man zum Bau von Straßen und Häusern verwendete. Am Ende der Straße stoßen wir schließlich auf die Präsentation einer Privatsammlung von Schnitzfiguren aus dem Erzgebirge. In gewisser Weise verweisen die Räuchermännchen auch auf den hiesigen Niedergang des Bergbaus, entstanden Holzwaren- und Spielzeugherstellung in Sachsen doch vor allem aus der Not, neue Erwerbsformen zu finden.

An den rauchenden Wachposten vorbei führt der Weg entlang der “Bösen Sieben” direkt in die Haldenlandschaft der fünf Otto-Schächte. Wir passieren die schon wieder alternden Beschilderungen von Otto-Schacht I. und III., auch andere Reste einer erinnernden Zeichensetzung sind schon wieder in Auflösung begriffen. Nun steht man auf der Schieferhalde und blickt hinunter nach Wimmelburg und auf den gegenüberliegenden Berg, die Schlackehalde Krughütte. Am Fuß unserer Abraumhalde liegt das ehemalige Benediktinerkloster St. Cyriacus, pittoresk und patiniert von der Vorderseite, im Hinterhof LPG.

Gegenüber, über das Dach des Einkaufszentrums auf die Halde fotografiert, gibt sich Wimmelburgs Zentrum mondäner als die Filmstadt des Mansfelder Landes: Wimmelwood. Der Parkplatz zeugt ebenfalls von Amerikanisierung.
In Wimmelburg und Umgebung verleiht eine Unzahl an Schächten und Halden der Landschaft das Aussehen eines Bergbauarchipels. Zwischendurch achaisch wirkende Wohnhäuser und Nebengebäude aus Schlackestein, vor allem aber mondartige Landschaften auf dem Sattel der Schlackenhalde und weite Ausblicke in die Landschaft. Irgendwo unter uns verläuft der Schlüsselstollen, ein Wasserlösungsstollen für das Mansfelder Bergbaurevier, von dem oberirdisch nichts zu sehen ist, wie von Luther auch nicht. Beide begleiten den Spaziergänger dennoch auf fast allen Wegen.

Folgt man in Eisleben nicht dem Bachlauf der “Bösen Sieben” in Richtung Westen, sondern verlässt die Stadt nach Norden, durchquert man zunächst ein Wohngebiet mit Mehrfamilienhäusern. Zunächst, die Stadtterrassen bergauf, erscheint am Ende der Schulgasse ein Straßenzug aus dem früheren 20. Jahrhundert. Etwas weiter nach Norden blickt man bergab in die neblige Bergbaulandschaft, noch etwas weiter schließen sich einige Riegel in Zeilenbauweise aus der Nachkriegszeit an, die Wilhelm-Pieck-Siedlung. Der freie Blick durch ihre begrünten Zwischenräume endet abrupt an einer Halde des Max-Lademann-Schachts.

Wir kreuzen die Glume und weiter Richtung Helbra dominiert eine weitere Halde bei Volkstedt – der Richtung nach müsste es die Halde des Vizthumschachts sein – die noch immer dunstige Landschaft.

Am Bahnhof von Klostermansfeld und Benndorf findet man viele bunte Lokomotiven und eine Bahnwerkstatt, die einige der Loks und Waggons der Mansfelder Bergwerksbahn betriebsfähig hält. Erschlossen wurden Stationen mit den sprechenden Namen Zirkelschacht, Bleihütte oder Kupferhammerhütte. An einer weiteren Haldenlandschaft nördlich der Mansfelder Straße kann man in einen Hohlweg abbiegen und kreuzt die Alte Poststraße. Der Weg führt durch den Wald in einer Kurve südlich am Mansfelder Schloss herum und an einem Wohngebäude entlang, dessen blätternder Charme eine kontrastreiche Verbindung mit den Koniferen im Garten eingeht. Wie zitierte doch Wolf Jobst Siedler so treffend: “Der Säulenwacholder wirkt als Einzelpflanze immer gut.” In Gruppen ist er auch recht ansehnlich. Hinter der Kaufhalle dann endlich Willis Imbiss, der uns auf unsere hungrige Nachfrage ans Herz gelegt wurde. Obst gab es auch, gleich auf der Kasse.

Überall rund um Eisleben trifft man auf die Überreste früherer Arbeit. Das Mansfelder Land ist eine Kulturlandschaft par excellence, vollständig ge- und überformt durch eine jahrhundertelange Tätigkeit in Bergbau und Metallverarbeitung. Die letzten Zeugen der Vergangenheit wirken meist wie scheinbar achtlos abgestellt, sie begegnen uns irgendwo am Straßenrand, an verlassenen Häusern, hinter ungeputzten Schaufensterscheiben, an ungesicherten Hohlwegen. Sie ähneln in ihrer Beiläufigkeit und ihrer angesetzten Patina den am Feldrand entsorgten Resten der Zivilisation, sind aber dennoch von diesem Haushaltsmüll grundverschieden. Denn meist sind sie absichtsvoll aufbewahrt und aufgestellt, nicht aussortiert und weggeworfen. Nicht ohne Würde wurden sie aus ihrem Kontext herausgelöst und in heimatlicher Umgebung neu präsentiert. Dort wirken sie dennoch fremd und seltsam inszeniert. Als identitätsstiftende Ankerpunkte gesetzt, sollen sie manchmal zudem als Hinweisträger fungieren wie im Fall der kleinen Bergwerkslore in Mansfeld. Vor einem geschlossenen und vernagelten Laden mit zerschlissener Markise, auf grauem Betonzappelstein stehend, rechts und links von vergessenen Baugruben abgeschrankt, weist der mit Abraum gefüllte Wagen auf das sechs Kilometer entfernte Mansfeld Museum in Hettstedt hin. Dabei ist Mansfeld selbst schon ein kleines Museum. Eine kleine Phantomstadt, wie Charles Baudelaire die ausgestorbene Stadt Brügge 1864 beschrieb: “Auch Brügge wird von uns gehen.” Und doch ist Brügge noch immer da, und mittlerweile auch gar nicht mehr grau und menschenleer wie Mansfeld heute.

Mit der Arbeit in den Bergwerken und in der metallverarbeitenden Industrie verschwanden nach und nach auch alle anderen Berufe und Geschäfte aus der Umgebung. Eine verblasste Beschriftung an einem ehemaligen Ladengeschäft in Mansfeld zeugt von der Zeit, als es auch dort noch Büros und Angestellte gab, die mit Hilfe von mechanischen Rechen- oder Schreibmaschinen ihrer Tätigkeit nachgingen, Geräte, die man ab und an warten musste und auch noch reparieren konnte, und darüber hinaus von der Eigenheit der deutschen Sprache, recht lange, aber zuweilen auch schöne Wörter zu bilden. Die von einem professionellen Schildermaler angefertigte Tafel simuliert in einer sauber gezeichneten Grotesk mit einem Schattenwurf eine teurere Blechschrift. Das Schild der Büromaschinenreparaturwerkstatt von Gerhard Stöckel: Ein kleines Denkmal der Arbeit und der Sprache.
Nur wenige Meter weiter befindet sich ein weiteres ehemaliges Ladengeschäft, vielleicht ein ehemaliger Bäcker? In dem mit weißem Tuch verhängten Schaufenster künden fünf alternde Hausgeräte von traditioneller Handarbeit und Kuchen: Ein längliches Holzbrett, eine wurmzerfressene Mehlschaufel, eine Kastenbackform und ein eckiges Backblech sowie eine Ballonflasche aus glasiertem Steinzeug. Ein kleines Museum des alltäglichen Verschwindens.
Wir wollen mit dem Bus zurück nach Eisleben: Der Ticketautomat liest uns den Fahrplan vor. Immerhin, ganz alleine ist man nicht, in Mansfeld.

Bei aller Einheitlichkeit des Mansfelder Lands, vor allem was die prägnanten baulichen Hinterlassenschaften betrifft, die auf die landschaftsprägenden Überreste des Bergbaus und der Industrie zurückzuführen sind, gibt es doch auch deutliche Unterschiede in den Formen der Besiedlung. Größere Siedlungen wie in Eisleben sind in den kleineren Ortschaften wie Mansfeld, Helbra oder Klostermansfeld kaum anzutreffen.
Hier ist das freistehende Wohnhaus der dominierende Bautyp, wie das fotografierte Exemplar im Norden von Eisleben an der Magdeburger Straße. Häufig nicht nach den Regeln der Baukunst, sondern nach jenen der Verfügbarkeit von Baustoffen und Finanzmitteln errichtet, finden sich nahezu sämtliche möglichen Formen, Materialien, Farben und Zustände.

Zwischen Helbra, Klostermansfeld und Hettstedt passiert man mehrere Wohn- oder auch Mischgebiete mit teils kuriosen und höchst individuellen Wohnhäusern. Die Luthergedenklandschaft in Sachsen-Anhalt folgt ja nicht zuletzt vor allem den Wohnhäusern der Reformation, kein Zufall also, dass wir diese Baugattung inspizieren.
An der Hauptstraße entlang und am Friedhof vorbei passieren wir bei Oberhütte den Steinmetzgrund und verfehlen erneut den Verlauf des Wilden Grabens, dem wir uns besser von Anfang an anvertraut hätten. Wir haben hingegen eine Erschließungsstraße der Windkraftanlagen in Richtung der Hans-Seidel-Schacht-Halde gewählt, vorbei an der dortigen Baustoffrecyclingstelle, um dann über einen recht feuchten Feldweg, der dem Namen “Rotes Land” farblich alle Ehre machte, jedoch Weißes Tal heißt, nun doch noch den Wilden Graben zu erreichen. Seinen Verlauf haben wir dann aber Richtung Norden in Richtung Bockstal verlassen. Den Hasselbach-Viadukt zwischen Mansfeld und Leimbach als eines der schönsten Brückenbauwerke der Region hatten wir ja leider verpasst.

Die kleine “Station Bocksthal” mit ihrer benachbarten Vollwandträgerbrücke entschädigt ein wenig: Sie liegt erhöht auf einem Damm und gehört zu dem dichten Schienennetz durch das gesamte Bergbaugebiet, zu dem auch Bahnwerkstätten, Schiebebühnen, Sozial- und Verwaltungsbauten, Drehwinkel, Rollwagenanlagen sowie natürlich die gesamten Gleisanlagen zählten. In Bockstal sieht es wie in Benndorf ein bisschen nach Spielzeugeisenbahn aus: Kleine bunte Loks und Waggons, Weichenanlagen, Beleuchtungskörper, Strommäste und Halden im Hintergrund, aber eben auch genügend Felder, Wiesen und Bäume – eine idealtypische Industrielandschaft, aufgebaut auf einem großen Brett auf dem Dachboden wartet sie auf spielende Kinder.

Im unweit gelegenen Zentrum von Klostermansfeld erscheint nur kurz der eigentliche Mittelpunkt der Ansiedlung im Blickfeld: Die ehemalige Benediktinerklosterkirche St. Marien mit ihren früheren Nebengebäuden, deren Keller teilweise noch ins Mittelalter datieren. Auch sie sieht man nicht. Nur wenige Meter weiter folgt schnell die Auflösung dieser Strukturen, es finden sich pastellfarben gestrichene Doppelbungalowhälften mit pultdachbestücktem Carport, die in der Mittagssonne zwei warme Farbtupfer in die müde Umgebung werfen. Prägnanter in ihrer Form und klarer in ihrer Materialität wirken hingegen die gegenüberliegenden Silos, Aldo Rossi hätte sie sicherlich gemocht. Wir folgen nur kurz dem Rinnsal der Alten Wipper, dann biegen wir wieder nach Norden ab und begleiten noch eine Weile den unterirdischen hier verlaufenden Schlüsselstollen.

Dann Richtung Burgörner, dem Anger folgend, der ein recht schön erhaltenes Straßenprofil zeigt, überqueren wir die rechtwinklig verlaufende Wipper und biegen nun in die Mansfelder Straße ein, wo wir auf ein beeindruckendes Ensemble stoßen, an dem auch Walker Evans kaum vorüberspaziert wäre, ohne seine Kamera aufzubauen. Eine formvollendet geschnittene Holzbude in schwindendem Grün, anschließend an ein Konglomerat aus rotem Backstein des 19. Jahrhunderts sowie Hohlblocksteinen und anderen Baustoffen der letzen Jahrzehnte. Bekrönt wird das Haus von einer gewagten Dachlinie. Wir müssen noch einmal hin, wenn es fertiggestellt sein wird.

Kurz vor unserem Tagesziel, der MKM Mansfelder Kupfer- und Messing GmbH, die uns überaus zuvorkommend zur Besichtigung ihrer Umkehrwalze eingeladen hatte, treffen wir glücklicherweise noch auf eine Gulaschkanone auf einem Parkplatz. Hier gibt es im Hintergund den großen Wasserturm der ehemaligen Gottesbelohnungshütte zu sehen, ein Bauwerk, das trotz seines Aussehens wohl erst 1954 errichtet wurde. Außerdem, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die durchbrochene Konstruktion eines Krans aus dem VEB Kranbau Eberswalde. Bei MKM am Lichtlöcherberg gibt es zunächst Schutzkleidung für alle und schließlich einen Rundgang durch einen Teil der Produktionsstätten – vor allem natürlich zur Kupferwalze und ihren Antriebsräumen von 1907 bis 1909: Ein Umkehrwalzwerk der Firma Krupp-Gruson aus Magdeburg und eine Transformatoren- und Umformerstation mit originaler Ausstattung von den Siemens-Schuckert-Werken – ein Kleinod der Industriegeschichte. Im Anschluss unterqueren wir noch den nicht minder beeindruckenden Schmalzgrundviadukt in Hettstedt-Burgörner, der als Teil der Betriebsanschlussbahn der Hütten- und Walzwerksbetriebe 1914 von Dücker aus Düsseldorf errichtet wurde und in einem eleganten Schwung auf den Bahnhof von Hettstedt zuläuft. Von dort aus geht es mit dem Bus zurück nach Eisleben, wieder zum Kindertarif. Irgendwie passend, nach all den Spielzeugträumen.