Martin Luther ist in Eisleben geboren und wurde hier getauft, er hielt hier seine letzte Predigt und schloss hier für immer die Augen. So ist es in dieser Stadt auch kaum möglich, ihm auszuweichen. Wir versuchen es gar nicht erst sondern begeben uns direkt in Luthers Geburtshaus. Im Neubau sind die Epitaphien aus den 1560er Jahren sehr vereinnahmend, die bereits 1816 auf Anraten des Architekten Karl Friedrich Schinkel aus den Säulenhallen des Eislebener Kronenfriedhofs hierher gebracht wurden. Neben den christlichen Traueraufgeboten für die Hüttenmeister Jacob Heidelberg und Georg Feuerlein zeigen die Gemälde im Bildhintergrund Stadtansichten, die zu den ältesten Ansichten der Lutherstadt gehören. Wir studieren noch einmal das Stadtmodell zu Beginn des Rundgangs. Es zeigt Eisleben nach 1560. Wir versuchen, uns zumindest die Kirchturmspitzen zu merken und wollen nun hinaus, um von hoch oben über der Stadt das wirkliche Eisleben überblicken zu können.
Wir nehmen den kurzen schmalen Stieg hinter dem Museum entlang der Bösen Sieben und lassen die Taufkirche Luthers links hinter uns. Wir queren den Bach und finden durch die Glockenstraße den Weg zum Markt. Hier schaut Martin Luther mit der St. Andreaskirche im Rücken vom Sockel über den Platz. Das Denkmal wurde 1883 zum 400. Geburtstag des Reformators eingeweiht. In der rechten Hand streckt Luther die päpstlichen Bannbulle von sich und mit der linken presst er die Bibel an sein Herz. Eines der vier Bronzereliefs des Sockels zeigt Luther beim Musizieren mit seinen Lieben.
Vor dem Rathaus beginnt der Anstieg durch die Münzgasse, wir folgen dem Zickzack der Gassen und Straßen in Richtung Nikolaikirche. Die Kirche steht leer, sie wurde zwar durch das Engagement einer Bürgerinitiative vor dem Verfall gerettet, ihr Inventar ist jedoch längst auf andere Kirchen der Lutherstadt verteilt. Wir umkreisen den Bau aus hellem Sandstein, der im 15. Jh. errichtet worden ist. Eisleben wuchs in dieser Zeit und das Nikolaiviertel war eine wichtige Stadterweiterung. Heute geht Eislebens Einwohnerzahl zurück. Sie hat sich seit 1990 von 35.000 etwa um ein Drittel reduziert.
Schon während des ganzen Weges bemerkten wir, wie vielseitig die Schlacke, ein Abfallprodukt der Kupfergewinnung, Verwendung findet. Als Mauer-, Zier- und Rinnstein, als Pflaster oder als Markstein mit Prägung. Selbst das Bett der Bösen Sieben unten im Tal ist mit Schlackestein ausgelegt. So wie andernorts das Gestein der Gebirge die Farbe der Bauwerke und Wege bestimmt, so sind es hier im Mansfeld schwarze oder graue Kunststeine, die die Landschaft prägen. Pflastersteine aus Mansfeld-Schlacke wurden weit über das Umland hinaus in ganz Europa vertrieben. »Mansfeld pflastert Europa« heißt eine Ausstellung im Humboldt-Schloss Großörner. Für die meisten Anwendungen wurde Schlacke einfach vor dem Abkühlen in Formen gebracht. Mit Ausnahme der Wickelschlacke, die beim Hausbau Verwendung fand. Ihr Name bezieht sich auf das Einmischen oder Einwickeln von Koksgruß in flüssige Schlacke mit Hilfe von Harken. Der Gruß vergast im Inneren der Schlacke und bläht das in Formen verbrachte Material zu großen rauhen Blöcken auf.
Wir haben den nordwestlichen Stadtrand erreicht. Über den Dächern der Saarbrückener Straße erblicken wir die Halde des einstigen Fortschrittschachts bei Volkstedt. Sie ist mit über 150 m die höchste Halde nordwestlich von Eisleben. Es gibt im Mansfeld drei Arten von Halden. Die unzähligen Kleinhalden entlang des höheren Randes der Mansfelder Mulde, die bereits zu Zeiten von Luthers Eltern, denen der Kupferschieferabbau zu gewissem Wohlstand verhalf, entstanden sind. Als im Verlauf des 19. Jh. der Bergbau befähigt durch neue Technologien in weitere Tiefen vordringen konnte, wuchs auch der Abraum und es entstanden die großen Flach- oder Tafelhalden. Auf der Suche nach dem Kupfer musste man sich vom Hang immer weiter ins Tal begeben, wo das Kupfer unter gewaltigen Sedimentschichten zu finden ist. Der Abraumanteil und Flächenverbrauch der Halden wurde immer größer und so erfand man in der Mitte des 20. Jh. ein mit der Haldenspitze in die Höhe wachsendes Förderband, das den Abraum stets vom höchsten Punkt auf die Halde verteilte. So entstanden die Mansfelder Pyramiden.
Wir laufen auf die Südhalde des einstigen Max-Lademann-Schachts zu. Sie erstreckt sich entlang der Glumestraße. Die Straße trägt den Namen des Baches, dessen Lauf mit dem Haldenabraum verschüttet wurde. Wir treffen Herrn Michalski, der vor seinem Haus nach dem rechten sieht. Als wir ihn fragen, wie wir auf die Halde raufkommen, weicht Herr Michalski der Antwort aus. Er erzählt von Mopedfahrern die oben am Haldenrand langfahren »und dann noch mit nem Kind vorne drauf«. Ungläubig tasten unsere Blicke die steilen Hänge ab. Wir fragen Herrn Michalski, ob ihn die Halde vor seinem Fenster nicht stören würde. »Ich sage immer, ich bin hier auf der Alm« erwidert er. Dann fängt Michalski an zu erzählen. »Da kam ähn janz schlauer, der wollte Geld drausmachen – mit Straßensplitt. Da wärs vorbei jewesen mit de Ruhe – nur Krach und Geschepper. Aber der durfte das nicht verwenden fürn Straßenbelach. Die ham Schwefel drin jefunden. Wenns hier schneit, ist die Kuppe gleich wieder frei, vom Schwefel schmilzt der Schnee weg«.
Neben dem Haus stehen riesige Torpfeiler aus Sandstein, »was war das denn mal für ein Gehöft?« fragen wir. Ach die Pfeiler sind nicht von hier sondern von der Samenhandlung in Eisleben unten. Ok, nichts ist so wie es scheint.
Auch wenn wir leider in einer schneefreien Zeit gekommen sind, wollen wir uns die Haldenkuppe etwas genauer anschauen. Wir folgen der Straße weiter Richtung Westen am Rand der Halde entlang, bis wir schließlich einen fahrspurbreiten Weg finden, der recht bequem die Halde hinauf führt. Oben angekommen überblicken wir zunächst das mit Birken bewachsene Plateau. Es sind zahlreiche Wälle als Windschutz für die noch recht karge Vegetation angelegt. Mehrere Trampelpfade führen durch die hohen Gräser an die Ränder des Plateaus heran. Von hier aus genießen wir aus lichter Höhe den Blick über Eisleben und weiter nach Süden. Im Osten sehen wir Volkstedt und die Spitzkegelhalde des Fortschrittschachts in voller Größe. Der Wind treibt uns rasch wieder hinunter. Beim Abstieg sehen wir im Norden die Flachhalde vom Zirkelschacht und östlich von ihr die Kegelhalde des E.-Thälmann-Schachts. Unterhalb der Halde befindet sich ein riesiges Solarfeld.
Wir bleiben auf der Hochebene über Eisleben und gehen durch die Siedlung am Friedrichsberg in Richtung Kreisfeld. Bald stoßen wir auf umgebrochene Äcker. Die für weite Teile des Mansfelds typische rote Färbung des Bodens entstand unter besonderen Bedingungen. Im späten Erdaltertum, vor etwa 300 Millionen Jahren, vereinten sich die Lithosphärenplatten zu dem Superkontinent Pangaea. Die Landmasse des heutigen europäischen Kontinents befand sich in Äquatornähe. Durch Drift nach Süden war Mitteleuropa im Perm vor etwa 250 Millionen Jahren einem besonders trockenen und heißen Festlandklima ausgesetzt, infolge dessen der Eisenanteil der Abtragungsprodukte rot oxidierte. Die Ablagerungen dieser erdgeschichtlichen Zeit sind nicht allein im Mansfelder Land als Rotliegend bekannt.
Der Feldweg ist von Birnbäumen gesäumt. An einem Stamm entdecken wir ein Schild mit stilisierter Jakobsmuschel, das den St. Jakobus Pilgerweg markiert. So wird einem im Kernland der Reformation der Weg ins entfernte Santiago di Compostela zu den Gebeinen des Apostels Jakob gewiesen. Hierzu fragt Luther rhetorisch, »Wer weiß, wen sie dort begraben haben?«.
In der Tat gilt dieser Mythos um Jakob als problematisch. Im Mittelalter diente die Legende von einer frühzeitigen Missionstätigkeit Jakobs auf der iberischen Halbinsel als Legitimation für die Vertreibung von Mauren und Juden durch die katholische Kirche. Der Francofaschismus sah in Jakob die Identifikationsfigur für ein nationales Spanien. In den 1950er Jahren begann die Ausweitung des Pilgerwegs über Spanien hinaus als Nationen und Menschen verbindende Geste. Stationen im Mansfelder Land sind Hettstedt, dessen Stadtwappen Jakobus d. Ä. mit Stab und einer Tasche mit Muschel zeigt, St. Andreas in Eisleben, das Kloster in Helfta und das Benediktinerkloster St. Marien in Klostermannsfeld.
Links vom Weg – tiefschwarz – erhebt sich eine Schlackehalde, sie ist das Überbleibsel der einstigen Karl-Liebknecht-Hütte ebenso bekannt als Krughütte. Von hier aus gesehen erscheint die Halde nur als kleiner Hügel. Tatsächlich erstreckt sie sich über mehrere hundert Meter oberhalb des ehemaligen Hüttengeländes. Unten im Tal der Bösen Sieben schließt sich die untere Halde an, die bis an den Rand von Wimmelburg reicht. Die Haldenfelder der ehemaligen Hütte sind zu einem riesigen Solarpark von etwa 100 ha überbaut.
Wir sind am westlichen Rand der Hochebene angelangt. Hier erstreckt sich nach Norden das Katharinenholz. Ein Hohlweg führt durch dieses Wäldchen hinunter nach Kreisfeld. Auf der Wiese links neben dem Weg lässt sich ein weiter Blick ins Tal vornehmen – über Kreisfeld hinweg in den Goldgrund. Auch hier hatten Luthers Eltern eine Hütte. Im Süden erblicken wir Wimmelburg. Wir folgen dem Hohlweg und biegen ab zur Gaststätte Katharinenholz. Obwohl Vorbereitungen für die Bewirtung einer geschlossenen Gesellschaft in vollem Gange sind, kommt aus der Küche eine kleine Stärkung für uns und der Wirt Detlef Schade erzählt beim Gläserspülen einige Geschichten. Warum die Böse Sieben so heißt: »Weil dieser Zulauf aus sieben Bächen besteht und weil unter bestimmten Witterungsbedingungen der Zulauf mitunter so heftig wird, dass es Hochwasser gegeben hat im Bereich Eisleben. Und da war sie halt böse.« Natürlich erzählt der Wirt auch von Bergbau und Hüttenwesen, »wenn früher abends oder nachts das Tal orange leuchtete« … »weil gerade die glühende Schlacke auf Halde den Hang runter gestürzt wurde …«. Wir verabschieden uns und schauen uns draußen noch die Freilichtbühne an, selbst die Sitzreihen der Arena sind aus Schlacke.
In Hergisdorf, Ortsteil Kreisfeld überqueren wir die Eislebener Straße. Vor einer langgestreckten Halde der Martins-Schächte, die gerade mit schwerem Gerät abgetragen wird, liegt der Sportplatz an der Halde. Bevor dieser 2001 von einem Splittplatz in einen Rasenplatz umgewandelt wurde galt er als Kreisfelder Schmirgelscheibe, berichtet das Schild neben seinem Eingangstor. Wir fragen Thomas Krummel, der gerade ins seinem Garten arbeitet. Er spielt bei den Alten Herren von SV Eintracht Kreisfeld und weiß über die Platzbedingungen bestens Bescheid. »Ich habe mich nie verletzt, aber manche hatten dann was an den Knien« sagt er lachend. Er holt noch eine Chronik von Kreisfeld mit zahlreichen Mannschaftsbildern aus seinem Haus. In ihr wird auch vom Kegeln von der Pfingstgesellschaft und der Bergbauhistorie berichtet. Erschienen als Festschrift zu 90-jährigem Jubiläum des Kreisfelder Sportvereins ist sie in der Gaststätte Katharinenholz erhältlich.
Es folgt ein weiterer Rasenplatz. Der FSV Grün-Weiß Wimmelburg spielt im Zentrum des 1.300 Einwohner zählenden Dorfes vor der Kulisse des unteren Schlackehügels der einstigen Krughütte.
Das Spielgeschehen kann nicht nur von der überdachten Zuschauertribüne aus verfolgt werden, sondern auch vom Spazierweg am Fuße des Friedrichsberges und von einzelnen Bänken auf der kleinen Halde an der linken Stirn des Fußballplatzes.
Wir überqueren die große Straße zwischen Eisleben und Sangerhausen. Beim Platz der LPG laufen wir auf die Reste der Anlage des ehemalige Kloster St. Cyriacus zu. Hinter dem Gehöft befindet sich ein weiterer Fußballplatz und die nächste Halde. Das Kloster ist während des Bauernkrieges 1525 von aufständischen Bauern geplündert worden. Das Wappen über dem Tor zeugt von der Übernahme des Gutes durch weltliche Herren. In der DDR wurde das Gehöft von einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) genutzt.
Wir queren die Böse Sieben, die durch Wimmelburg nach Eisleben fließt und laufen weiter durchs Unterdorf Richtung Bushaltestelle. Schlacke am Friedrichsberg zur linken, Haldengestein entlang der Hüneburg zur rechten verengen das Tal. Plötzlich erblicken wir die Krughütte, die den ganzen Kupferschiefer verschlungen und den dunklen hohen Schlackehügel ausgeworfen hat.
Am Straßenrand steht sie hier nur noch als Miniatur – als liebevoll gefertigtes Modell.
Bei der Krughütte wurden von unzähligen Arbeitern nicht nur Unmengen von Kupfer verhüttet sondern auch hunderte Straßenkilometer Pflastersteine aus Schlacke gegossen. Auf einigen der hier gefertigten Steine ist jeder von uns schon gelaufen. Doch den restlichen Weg zurück werden wir fahren. Ganz in der Nähe hält unser Bus nach Eisleben. Am Ortsausgang von Wimmelburg durchfahren wir die Millionenbrücke, von hier aus wurden Kupfer und Schlackezeug in die Welt gebracht.